Donnerstag, 12. Februar 2015

Immer weniger Kinder dürfen draußen spielen und die Natur entdecken

Draußen spielen und Tiere und Pflanzen kennenlernen? Immer mehr Kindern bleiben Naturerlebnisse verwehrt.
© Deutsche Wildtier Stiftung/T. Martin
Eltern, die in den USA ihre Kinder unbeaufsichtigt draußen spielen lassen, riskieren eine Strafanzeige und Kontrollbesuche von Mitarbeitern der Jugendämter. Nur Helikoptereltern, die ihre Kinder aus Angst, es könnte etwas passieren, pausenlos beaufsichtigen und überwachen, gelten als gute Eltern. "Wir hatten eigentlich gedacht, ins Land der Freiheit gezogen zu sein", schreibt der Washington-Korrespondent der "Welt", Clemens Wergin, in seinem Bericht über "die hysterische Kultur des Nanny-Staats USA" und stellt fest: "Doch beim Thema Kinder hört diese Freiheit schnell auf."
So schlimm ist es hierzulande zum Glück noch nicht, dachte ich, als ich den Zeitungsartikel las, aber seit heute bin ich mir da nicht mehr so sicher, denn: Fast die Hälfte (49 %) der deutschen Kinder zwischen vier und zwölf Jahren sind noch nie selbstständig auf einen Baum geklettert.
Das heute vorgestellte Ergebnis der von der Deutschen Wildtier-Stiftung in Auftrag gegebenen Umfrage zeigt eine eine erschreckende Naturferne von Kindern gerade in dem Alter, in dem sie eigentlich so oft wie möglich draußen herumtoben sollten. Immer weniger Kinder in Deutschland dürfen der Umfrage zufolge im Wald spielen oder in der Natur herumstreifen.
Was vor wenigen Jahrzehnten sowohl in den USA als auch in Deutschland selbstverständlich war – man denke nur an die Abenteuer von Tom Sawyer und Huckleberry Finn –, ist heute selten geworden: Kinder, die draußen in der Natur spielen und herumtoben, auf Bäume klettern, Wildtiere beobachten und Bäche anstauen. „Einer der Gründe könnte die neue Ängstlichkeit der Eltern sein“, sagt der Geschäftsführer des Forum Bildung Natur der Deutschen Wildtier-Stiftung, Michael Miersch. Das Forum Bildung Natur ist mit dem Standort Berlin der Bildungszweig der Deutschen Wildtier Stiftung und engagiert sich für die Naturbildung für Kinder und Jugendliche. Eine große Mehrheit der Eltern findet es gefährlich, ihr Kind im Wald spielen zu lassen.
Im Auftrag der Deutschen Wildtier-Stiftung legte das TNS-Emnid-Institut 1003 Eltern folgende Frage vor: „Eine Mutter erlaubt ihrem zehnjährigen Sohn, mit einem Freund im Wald zu spielen. Die Mutter des Freundes ist dagegen. Sie findet, das ginge nur, wenn ein Erwachsener auf die Kinder aufpasst. Wer hat Ihrer Meinung nach Recht?“ 53 Prozent der Befragten stimmten der ängstlichen Mutter zu.
Auch die Beobachtung von Wildtieren gehört für viele Kinder heute nicht mehr zu selbstverständlichen Erlebnissen. 22 Prozent der Eltern gaben an, dass ihre Kinder „nie oder fast nie“ ein frei lebendes Tier zu Gesicht bekommen. „Auffallend ist, dass sich mit dem Alter der Befragten die Einstellung ändert“, betont Miersch: „Man kann sagen: Je jünger die Eltern sind, desto ängstlicher sind sie!“ So sagten 58 Prozent der über 50jährigen: „Ja, mein Kind ist ohne Hilfe auf einen Baum hochgeklettert!“ Aber nur 33 Prozent der unter 29jährigen Eltern beantworten diese Frage mit „ja“.
„Das elementare Wissen über Wildtiere und Pflanzen vor unserer Haustür schwindet rasant“, sagt   Miersch. Dass diese Entwicklung dramatische Folgen hat, beweisen die Ergebnisse, die in dem Buch „Startkapital Natur“ (Oekom Verlag) zusammengefasst sind. In 150 internationalen Studien wird in dem Buch belegt, wie wichtig Naturerfahrungen für die kindliche Entwicklung sind. Spielen im Wald, auf Wiesen und an Bächen fördert nicht nur die motorischen Fähigkeiten, sondern auch das Sprachvermögen, das Selbstbewusstsein und die soziale Kompetenz. Die sozial- empirischen Befunde sind leicht verständlich, anschaulich und übersichtlich aufgearbeitet. „Startkapital Natur“ entstand in Kooperation des Forum Bildung Natur mit den Erziehungswissenschaftlern Andreas Raith und Prof. Armin Lude von der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg.
„Unser Fazit steht fest: Kinder und Jugendliche brauchen mehr Naturerfahrungen“, sagt Michael Miersch. Er sieht in der Naturbildung für Kinder und Jugendliche eine „gesellschaftliche Herausforderung“ und eine „dringende Notwendigkeit“.
Liebe Eltern, habt Ihr schon einmal daran gedacht, was Ihr euren Kindern antut, indem Ihr sie von allen Naturerlebnissen fern haltet? Stellt euch mal vor, Ihr wärt so überbehütet aufgewachsen!

2 Kommentare:

  1. Jüngere Eltern sind, denke ich, ängstlicher, weil auch sie schon weniger naturbezogener erzogen wurden. Das von Dir zu Recht angesprochene Problem ist gar nicht so neu Es ist in der Verstädterung unseres Lebens begründet.. Dabei ist U-Bahnfahren oder auf Parkplätzen spielen gefährlicher als das Umhertollen in der Natur. Waldkindergärten können ein wenig dagegenhalten.
    Ich finde es auch schade, dass Kinder heute immer früher in Krippen abgegeben werden und organisiert spielen müssen.

    Danke wieder für die vielen Artikel der letzten Zeit, ob es nun ums Brotbacken, ein Bild von Larson oder um den Flugverkehr geht. Ich fühle mich (fast immer) gedanklich darin wieder und angesprochen.

    Sei lieb gegrüßt, Inka, und alles Gute auch für Marion!

    Felicitas

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    1. Danke für Deinen klugen Kommentar, liebe Felicitas! Marion und ich haben gestern Abend auch noch über das Thema diskutiert, und Marion vermutete, dass die Mehrheit der Eltern, die ihre Kinder nicht mehr draußen spielen lassen, gar keine Helikopter-Eltern sind, sondern solche, die es einfach normal finden, sich überwiegend drinnen aufzuhalten und die Zeit vor dem Computer- oder TV-Monitor zu verbringen, weil sie möglicherweise auch schon aufgewachsen sind. Das Problem dürfte sich also von Generation zu Generation verschärfen, verstärkt noch durch die von Dir angesprochene Verstädterung, die ja den Prognosen zufolge noch weiter zunehmen wird.
      Die Aufbewahrung der Kinder in Krippen ist nur dann akzeptabel, wenn die Krippenkindern überwiegend draußen spielen dürfen. Einige Waldkindergärten haben ja auch schon Krippengruppen. Dass es immer mehr Waldkindergärten gibt, zeigt, dass zum Glück auch die Gruppe der Eltern wächst, die ihren Kindern Naturerlebnisse bieten wollen, wenngleich diese natürlich auch in gewisser Weise organisiert sind.
      Ein schönes Wochenende und liebe Grüße
      Inka

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